Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“
„Doktor Faustus“ ist wohl das größte Werk von Thomas Mann. Das ist ein Roman unserer Epoche. Ein Roman über die Intelligenz in der Zeit der beiden Weltkriege, des Hitlerregimes, der die Frage stellt, was für eine Position ein Vertreter der Intelligenz im 20. Jahrhundert einnehmen soll. Die zweite Frage ist, welche Aufgaben die Kunst in unserer bewegten Epoche hat. Als Th. Mann die Arbeit am „Doktor Faustus“ aufnimmt, ist es gerade das Jahr 1943, die Zeit nach der Schlacht bei Stalingrad. Th. Mann lebt in den Vereinigten Staaten als Emigrant mit seiner Familie. 1946 beendet er den Roman. Als er ihn beendet hat, fragt ihn seine Frau, wie er in seinen Aufzeichnungen berichtet, ob er fertig ist. – Ja, ich habe meine moralische Pflicht getan. Warum eine moralische?
Th. Mann wurde in Lübeck in einer Kaufmannsfamilie geboren. Er hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Der älteste Bruder, Heinrich Mann, fortschrittlich gesinnter Schriftsteller, der aktiv an dem gesellschaftlichen Kampf teilnahm, übte vor allem in seinem Roman „Der Untertan“ bittere Kritik an dem kaiserlichen Deutschland und am Untertan der Geister, der Bürgerklasse. Eine Schwester beging früh Selbstmord, die andere starb früh. Viktor Mann war ein Agronom, überlebte das Hitlerregime und verfasste nach dem Weltkrieg einen Familienroman „Wir waren fünf“.
Th. Mann siedelte nach München um, wo er die Tochter eines Mathematikprofessors, Katia Pringsheim, heiratete, das schönste und das reichste Mädchen in München.
Th. Mann begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit Novellen und Romanen, in denen er die Krise der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Als der Erste Weltkrieg begann, gingen Thomas und Heinrich auseinander. Heinrich Mann nahm eine antimilitärische, pazifistische Position ein, während Thomas Mann sich den nationalistischen Stimmungen Anfang der Krieges ergab. Als 1914, nachdem Deutschland den 1. Weltkrieg entfesselt hatte, 93 deutsche Intellektuelle einen Aufruf an die Völker Europas veröffentlichten, in welchem sie die militärische Einstellung des deutschen Reiches rechtfertigten, unterschrieb Th. Mann auch dieses Dokument. Heinrich Mann schloss sich den Pazifisten an, die um Romain Rolland in Genf gruppierten, und mit fünf anderen deutschen Intellektuellen veröffentlichte eine Gegendeklaration.
Th. Mann schreibt 1918 ein großes Essay „Bekenntnisse eines Unpolitischen“. In diesem Essay propagiert er die Notwendigkeit für einen Intellektuellen, abseits von aller Politik zu stehen. Das Leben der Gesellschaft geht ihn nichts an. Er steht jenseits von ihren Problemen. Hier verspottet er die Pazifisten, Romain Rolland, seinen Bruder Heinrich. Nach diesem Roman sind die Brüder verfeindet und nur als Ende der 20-ger Jahre, Anfang der 30-ger Jahre klar wird, dass die Faschisten zur Macht kommen können, beschließt Th. Mann in die Politik aktiv einzugreifen. 1932, vor den Wahlen in den Reichstag tritt Th. Mann in Berlin öffentlich auf, agitiert für die Demokraten, gegen die Faschisten, jetzt reichen die Brüder einander die Hand. Als 1933 Hitler zur Macht kommt, befindet sich Th. Mann mit seiner Familie auf einer Auslandsreise. Als ihn die Botschaft erreicht, dass Hitler zur Macht gekommen ist, beschließ er als Zeichen des Protests mit seiner ganzen Familie nicht nach Deutschland zurückzukehren. Sie gehen zuerst in die Schweiz, dann in die USA. Während des 2. Weltkrieges spricht er jede Woche durch BBC in den Sendungen „Deutsche Hörer”, er wendet sich an seine deutschen Mitbürger, indem er das faschistische Regime demaskiert.
Th. Mann gilt in jener Zeit als der bedeutendste Romancier. 1928 hat er den Nobelpreis bekommen. Außerdem imponiert seine politische Position.
1943 beginnt er in Kalifornien am „Doktor Faustus“ zu arbeiten, dem Roman über die Intelligenz. Da hält er Gerichtstag über sein eigenes „ich“. Zugleich ist dieser Roman eine Auseinandersetzung mit der Philosophie von Nietzsche, denn diese Philosophie hat Anfang des Jahrhunderts einen sehr großen Einfluss auf die Intelligenz, auf Th. Mann selbst, ausgeübt.
Nietzsche ist in die deutsche Geistesgeschichte als Philosoph und als Dichter eingegangen und er wirkte auf die deutsche Intelligenz sowohl durch seine Philosophie als auch durch seine Dichtung. Seine sehr emotionalen, ausdrucksvollen Gedichte wurden zum Ausdruck der Grundsätze, die die ganze Generation beherrschte. Nietzsche, im Gegensatz zu den anderen deutschen Philosophen, schafft kein philosophisches System. Seine Philosophie besteht aus Sentenzen, aber wenn all das summiert, gewinnt man ein bestimmtes weltanschauliches Panorama. Nietzsche meint, dass es zwei Sorten von Menschen gibt: die begabten, die starken, die dazu berufen sind, zu herrschen, alle Güter dieser Welt zu genießen, die Übermenschen; aber der größte Teil sind schwache Menschen, die nur gehorchen können, die Untermenschen. Die Übermenschen sind dazu berufen, die Untermenschen auszubeuten. Wer ein Übermensch ist, ist logisch nicht festzustellen, man muss das fühlen. Diese Philosophie übte auf die deutsche Intelligenz einen sehr starken Einfluss aus, das spiegelt sich im Essay von Th. Mann. Was geht es den Übermenschen an, dass Menschen auf den Schlachtfeldern fallen. Diese Philosophie eignete sich auch der deutsche Faschismus an. Der Begriff „Übermensch“ wurde an ein ganzes Volk angewandt. Die Deutschen sind eine höhere Rasse, die Übermenschen.
Als der Faschismus zur Macht kommt, sieht Th. Mann die Verderblichkeit dieser Philosophie und in seinem Roman „Doktor Faustus“ setzt er sich mit dieser Philosophie auseinander.
Der Held Adrian Leverkühn, ein hochbegabter Komponist, ist der Übermensch und in seinem Bild verkörpert Th. Mann Nietzsche.
Die Struktur des Romans
Der Roman spielt auf drei Ebenen: die eine Ebene ist die Zeit des 2. Weltkrieges, 1943–1946. In dieser Zeit schreibt Serenus Zeitblom, ein Gymnasialprofessor, die Biographie seines Freundes, des Komponisten Adrian Leverkühn, und schildert dabei die Ereignisse des 2. Weltkrieges. Er ist ein Altphilologe, hat im Gymnasium unterrichtet, hat eine einfache Frau, zwei Söhne. Als Hitler zur Macht kommt, kann und will er nicht unterrichten, was die Faschisten von ihm verlangen. Er unterrichtet nicht mehr und schreibt seine Aufzeichnungen. Er hat den Faschismus nie zugestimmt, aber er hat auch nie aktiv gegen ihn gekämpft. Er ist ein Außenseiter. Er hat nicht einmal seine Söhne erzogen, sie sind Faschisten geworden.
Die zweite Ebene ist das Leben des Komponisten Adrian Leverkühn vom Anfang des Jahrhunderts bis 1940. Er ist außergewöhnlich begabt. Von Jugend an zeichnet er sich durch sein Talent aus. Er lebt ganz in seiner Kunst, die anderen Menschen interessieren ihn nicht. Er geht wie Nietzsche einmal in ein Bordell und lernt eine Frau (Esmeralda) kennen, die ihm gefällt, und wird krank an Syphilis. Alle seine Kontakte mit Menschen fehlen. Sein Versuch, einen Freund zu gewinnen, misslingt, eine Frau heiraten gelingt auch nicht, endlich gewinnt er einen Knaben lieb, aber er stirbt. Th. Mann stellt die Ästhetik der Dekadenz dar, die auf Nietzsche gründet. Von Nietzsches Standpunkt ist die Kunst ein Ausdruck der Innerlichkeit, die Kunst drückt die Gefühle des Menschen aus, dabei hat sie keine sozialen Aufgaben. Diese Kunst praktiziert Adrian. Er schreibt schließlich eine Kantate, die dem legendären Doktor Faustus gewidmet ist. Nachdem er diese Kantate seinen Freunden vorgespielt hat, verfällt er in Wahnsinn. Hat Adrian seine Pflicht den Menschen gegenüber, der Heimat gegenüber erfüllt? Ist solch eine Kunst berechtigt oder hat die Kunst auch eine soziale Aufgabe?
Die dritte Ebene ist das 16. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den ersten beiden Ebenen ist diese „aufmontiert“. Es ist das 16. Jahrhundert, die Zeit der Reformation, die Zeit von M. Luther. Diese Epoche kommt schon in der Bezeichnung vor. So heißt der Held des Volksbuches aus dem 16. Jahrhundert. Das Volksbuch von Doktor Faustus wurde im 16. Jahrhundert vom Verleger J. Spieß das erste Mal in Frankfurt gedruckt. Das ist eine Geschichte vom mittelalterlichen Alchemisten und Magier, von dem Wissenschaftler und Zauberer, der sich mit dem Teufel, dem Dämonischen verbündete. Und an diesem Dämonischen ist er zugrunde gegangen. Der Teufel holte seine Seele. Adrian Leverkühn wendet sich von der Gesellschaft ab, er wendet sich seiner Kunst zu. Schließlich schreibt er sein letztes Werk. Hier verfällt er in den Wahnsinn. Aber das 16. Jahrhundert kommt formell noch anders zum Ausdruck vor. Die meisten Namen, die gebraucht werden, stammen aus dem 16. Jahrhundert. Außerdem ist ein ganzes Kapitel in Frühneuhochdeutsch geschrieben, im Lutherdeutsch. Der Gehalt dieses Kapitels ist der Legende von Doktor Faustus entkommen.
Adrian Leverkühn erscheint der Teufel und er schließt mit dem Teufel einen Bund. Das ganze Kapitel ist ein Dialog zwischen Adrian Leverkühn und Teufel. Alles ist in Frühneuhochdeutsch geschrieben. Als die beiden Freunde in Halle studieren, haben sie Vorlesungen beim Professor Ehrenfried Kumpf. Ehrenfried Kumpf als Professor ist eine Parodie auf Luther, der Stil seiner Vorlesungen soll dem von Luther entsprechen. Die geschilderten Ausdrücke von Kumpf sind den Reden von Luther entnommen. Auch das Abendessen bei Kumpf ist eine Parodie auf Luthers Gewohnheit, seine Schüler und Freunde zu einer Mahlzeit einzuladen und auf Tischreden, die später veröffentlicht wurden. Warum nun wendet sich Th. Mann dem 16 Jahrhundert zu? Warum montiert er diese Zeitebene auf? In der Hitlerzeit fragt sich Th. Mann, wie es dazu gekommen ist, dass das deutsche Volk, das der Welt Goethe und Schiller, Kant und Hegel, Mozart und Beethoven die großen Vertreter des deutschen Volkes, die Menschlichkeit gepredigt haben, geschenkt hat, zum blutigen Mörder geworden ist, zu einem Volk, von dem sich die ganze zivilisierte Welt abwendet. Nun verfolgt Th. Mann die geistesgeschichtliche Entwicklung der deutschen Kultur. Dabei stellt er fest, dass schon im 16. Jahrhundert gerade bei Luther sich Züge bemerkbar machen, die sich auf Deutschland verderblich auswirkten. Gerade Luther hat in seinen Werken, vor allem im Traktat „Über die Freiheit eines Christenmenschen“ gelehrt, dass den Menschen zwei Freiheiten gegeben sind: zu glauben und zu denken. Die Glaubens- und Gedankenfreiheit ist jedem Menschen gegeben. Aber es gibt noch eine zweite Freiheit: die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft, die politische Freiheit. Diese Freiheit ist dem Menschen nicht gegeben, denn jeder Staat eine Regierung hat, der sich jeder zu unterwerfen hat.
In allen weltlichen Dingen ist der Mensch ein Untertan. Der Mensch hat zu gehorchen und Befehle zu erfühlen; daraus folgt die Einstellung, dass der Untertanengeist eine Notwendigkeit ist. Deshalb, von dieser Position aus, befiehlt M. Luther die aufständischen Bauern wie tolle Hunde torzuschlagen. Dieser Untertanengeist, der nach M. Luther in Deutschland kultiviert wurde, führte dazu, dass im faschistischen Deutschland sich die meisten Menschen den verbrecherischen Befehlen und Anordnungen der Naziregierung unterwarfen.
Die Aufmontierung des 16. Jahrhunderts ist eine Auflage des Untertanengeistes, den Luther verbreitet hat und zugleich eine Anklage des Nationalismus, der nach Th. Mann auch seinen Anfang bei Luther nimmt. So deckt Th. Mann die historischen Wurzeln der faschistischen Weltanschauung auf, die verderblich wurde für das deutsche Volk und für alle Völker Europas.